Geschichten, die Geschichte machen …

In einem Interview in der NZZ vom 26. Januar 2022 illustrierte Nobelpreisträger Robert J. Shiller, wie stark Geschichten den Lauf der Wirtschaft beeinflussten (1). Dabei zog er klare Parallelen zur Gegenwart: «Die Geschichte von der Inflation ist schon sehr alt. Welche Bedeutung sie haben kann, sieht man an Deutschland. Dort kam es 1923 zu einer Hyperinflation. Die Erinnerung wirkt bis heute nach, die Deutschen sind immer noch stärker gegen Inflation eingestellt als die Bürger anderer Länder». Die Frage sei dabei, so Shiller, ob dieser «Erzählzyklus» in den nächsten Monaten wieder zum Leben erweckt werde.

«Narrative Economics»

Robert J. Shiller weiss, wovon er spricht. 2019 erschien sein einflussreiches Buch «Narrative Economics: How Stories Go Viral and Drive Major Economic Events». Darin beschreibt Shiller seinen Forschungsgegenstand wie folgt (S. 3, in deutscher Übersetzung): «Ein wirtschaftliches Narrativ ist eine ansteckende Geschichte, die das Potenzial hat, die Art und Weise zu verändern, wie Menschen wirtschaftliche Entscheidungen treffen: z.B. die Entscheidung, einen Arbeitnehmer einzustellen oder auf bessere Zeiten zu warten, sich im Geschäft zu engagieren oder vorsichtig zu sein, ein Unternehmen zu gründen oder in einen volatilen spekulativen Vermögenswert zu investieren.» Als aktuelles Beispiel nennt Shiller die verlockende Bitcoin-Saga: eine Erzählung von inspirierten jungen Menschen, die im Gegensatz zu uninspirierten Bürokraten mittels fortschrittlicher Informationstechnologie und einer Prise Geheimnis das verkrustete Finanzsystem aufbrechen und gerechter machen wollen.

Die Grosse Depression

In seiner Forschung befasst sich Robert J. Shiller gerne mit der schädlichen Wirkung ökonomischer Erzählungen. So etwa während der Grossen Depression in den USA der 1930er Jahre: Damals habe sich das Narrativ der technologischen Arbeitslosigkeit durchgesetzt, wonach Maschinen unwiderruflich Arbeitsplätze ersetzten. Dies habe die Menschen veranlasst, ihre Investitionsausgaben und den Konsum einzuschränken. Gleichzeitig sei in den Köpfen der Menschen die Vorstellung gewachsen, in den 1920er Jahren auf zu grossem Fuss gelebt zu haben – und nun zu Werten wie Religiosität, Bescheidenheit und Mitgefühl zurückfinden zu müssen.

Die Macht von Erzählungen brechen

Aus heutiger Sicht heizten derartige Narrative die Grosse Depression erst recht an. Doch wie lassen sich solch schädliche Narrative aufhalten? – Den richtigen Weg beschritt US-Präsident Franklin Delano Roosevelt. Er richtete in seinem ersten Kamingespräch im März 1933 einen Appell an die Bevölkerung. Seine Mitbürger sollten bei der Wiedereröffnung der Banken nicht mehr Geld abheben, als sie benötigten. Wer sich nicht daran halte, verfüge über kein soziales Bewusstsein und schädige willentlich die Wirtschaft. Roosevelt entwickelte damit das ursprüngliche Narrativ weiter, wobei er sich weiter auf dessen Hauptmotiv – die Rückkehr zu Moral und Werten (s.o.) – stützte. Das probate Mittel, die Macht von Erzählungen zu brechen, lautet deshalb: Schreibe eine überzeugende Fortsetzungsgeschichte …

Quelle: 1: www.nzz.ch/finanzen/shiller-zu-tech-aktien-inflation-crash-gefahr-und-bitcoin-ld.1666342.

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